Dienstag, 12. Mai 2015

Francine Prose / Lügen auf Albanisch (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch habe ich seit Samstagmittag durch und es hat mir recht gut gefallen, obwohl mich ein paar wenige Punkte nicht überzeugt haben. Komme später darauf zu sprechen. Habe ein paar Zettelchen im Buch kleben, die ich nun bearbeiten werde.

Manche Begrifflichkeiten waren nicht korrekt, wie z. B. die Legasthenie, die im Buch als eine typisch amerikanische psychische Labilität beschrieben wird. Wahrscheinlich hat die Autorin das ADHS gemeint und mit der Legasthenie verwechselt. Es ist tatsächlich so, dass in Amerika viele amerikanische Kinder diese ADHS-Diagnose erhalten, die einen kritisch stimmen …

Auch sind einige Schreibfehler enthalten.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein: 
Die junge Albanerin Lula – schlagfertig, trinkfest und nie um eine gute Lügengeschichte verlegen – lebt als Kindermädchen bei Mister Stanley, der an der Wall Street arbeitet, und dessen halbwüchsigem Sohn Zeke, nachdem Mister Stanleys Frau die Familie Hals über Kopf verlassen hat. Unterstützt von einem hoffnungslos idealistischen Einwanderungsanwalt, bemüht sich Lula um die begehrte Greencard. Die Tage im trübsinnigen New Jersey verstreichen mehr oder weniger ereignislos, bis Lulas Landsmann Alvo vor der Tür steht und mit einer riskanten Bitte aufwartet … 
Die Szenen mit dem Landsmann Alvo und seiner Crew hat mich nicht wirklich überzeugt. Kam mir ein wenig naiv vor. Urplötzlich stehen diese vor Lulas Haustür und bekennen sich als ihre großen Brüder, eher symbolisch als genetisch gemeint. Mir kamen sie recht mafiosi- oder terroristisch vor, weshalb mir der Schluss ein wenig unpassend erschien. Doch mehr möchte ich dazu nicht verraten. Wahrscheinlich war sich die Autorin noch nicht schlüssig, welche Rolle sie ihnen geben sollte …

Das Lügen auf Albanisch wird schon auf den ersten Seiten deutlich, was konkret damit gemeint ist:
Früher, bei Lula zu Hause, wo das Lügen jahrzehntelang eine massenhaft verbreitete Lebensweise gewesen war, wo man zustimmte, dass Tag Nacht war, wenn man glaubte, dadurch seine Kinder retten zu können, hatte sie nie gelogen, fast nie. Sie hatte so gut wie nie gelogen, bis sie ihr Touristenvisum für die USA beantragte. Doch seit sie hier war, schien sie mit dem Lügen gar nicht mehr aufhören zu können. 
Hier prallen zwei Kulturen aufeinander. Lula, aus dem kommunistischen Albanien, und Amerika, das angebliche Land der Freiheit.

Doch der Preis ist hoch, wenn Lula gezwungen wird, ihre Identität als Albanerin zu verleugnen. Immerhin hat sie es zu einem Arbeitsvisum geschafft. Doch tagtäglich ist sie erneut dem Anpassungsdruck ausgesetzt …
… Auch wenn Lulas Einwandererstatus einstweilen gesichert war, hatte sie das Gefühl, ihre Zukunft hänge von dem Lügennetz ab, das sie bei ihrer ersten Begegnung mit Mister Stanley zu knüpfen begonnen hatte. Schuld war Mister Stanley, weil er ihr eine Frage gestellt hatte, die er selbst hätte beantworten können, obwohl sie wusste, dass jeder zukünftige Arbeitgeber sie das auch fragen würde. 
Lula ist allein und vermisst ihre Verwandten in Albanien. Amerika, das Land der Freiheit, zeigt sich nicht gerade von der tolerantesten Seite, hat Probleme, Menschen mit einer anderen ethnischen Prägung zu akzeptieren und halten Lula manchmal für ein wenig naiv.
Lula ist allerdings alles andere als naiv und das wissen Mister Stanley und ihr Anwalt Don Settebello, die ihr helfen, in Amerika Fuß zu fassen und juristisch ein dauerhaftes Bleiberecht zu erwirken. Doch wenn sie hin und wieder mal etwas Albanisches von sich gibt, wird sie von Mister Stanley und von Mister Settebello zurechtgewiesen, denn dies könnte ihren Aufenthaltsstatus gefährden. Dass ein Mensch alles zurücklassen muss, nicht nur Heim, Familie und materielle Güter, und nicht nur das Seelische, um woanders bessere Lebensverhältnisse vorzufinden, wird nur wenigen Amerikanern bewusst:
Wie sehr sie ihre Mutter und ihren Vater vermisste, und ganz besonders ihre Großmutter! Sie würde sie nie wieder sehen. Hier gab es niemanden, der diese Geschichte kannte, der Lula oder ihre Oma kannte. Lula weinte um ihre Oma, ihre Eltern und ihre Kindheit, um ihre Heimat, alles verloren, um den Kommunismus, ab mit Schaden, um die Gesetzlosigkeit, die Krawalle, die Gewalttätigkeit, die nie endenden Probleme. Denn ihr einst wunderschönes Heimatland befand sich jetzt in den Händen von Giftmüllabladern und Frauenhändlern und Geldwäschern. Sie weinte darum, ihr Land zu vermissen, es nicht zu vermissen, nichts zu haben, das sie vermissen konnte. Sie weinte über die Einsamkeit und Unsicherheit ihres Lebens unter Fremden, die nach wie vor ihre Meinung ändern und sie nach Hause schicken konnten. 
Diesem Anpassungs- und Assimilationsdruck sind viele Menschen ausgesetzt, die woanders eine neue Heimat suchen, weil das Leben in der alten Heimat unerträglich geworden ist.

Lula idealisiert Amerika, auch wenn sie sehr wohl in der Lage ist, das Land ungeschminkt zu betrachten. Aus der Sicht ihres Chefs:
Für Lula müssen die Probleme hier in diesem Land schlimm sein. Sie sieht, was mit diesem Land passiert. Aber sie kommt aus einem Kulturkreis, in dem Amerika Gott ist.
Lula wägt die Probleme Amerikas mit den Problemen der Krisenländer ab. Oftmals steht sie vor einem Rätsel, mit welchen Bagatellen sich die Amerikaner auseinandersetzen. In der Zeit, in der Lula ihren Schützling Zeke betreut, und sie von ihm erzählt bekommt, wie schrecklich der letzte Sommerurlaub war, zeigt sie eher Unverständnis:
>>Das soll dein schlimmster Sommer gewesen sein?<< fragte Lula. >>Überall auf der Welt werden Kinder entführt und als Kindersoldaten eingesetzt oder werden in Munitionsfabriken in die Welt gesprengt. Ich wette, wenn Don Settebello nach Guantanamo kommt, wird er dort auf Kinder - Gefangene! - treffen, die nicht viel älter sind, als du.<<  
Auch wenn dieses Zitat mir zu wenig differenziert ist, verstehe ich schon, was Lula mit diesen Vergleichen beabsichtigt. Menschen, die in Krisenländern aufwachsen, sind tagtäglich mit der Gefährdung ihrer Existenz konfrontiert, während die meisten Amerikaner diese Form von Bedrohung erst gar nicht kennen und verstehen.

Es gibt noch eine albanische Freundin namens Dunia, die einen reichen amerikanischen Chirurgen geheiratet hat, und sie nun alle Vorteile dieses Landes genießt. Lula und Dunia haben sich seit langer Zeit das erste Mal wieder gesehen. Dunia berichtet aus dem Leben mit dem Amerikaner:
>>Er redet gerne beim Sex. Dann gefällt ihm mein Akzent. Er mag es sogar, wenn ich albanisch spreche. Er denkt, ich würde sagen: Fick mich, bis mir die Sinne vergehen! Wobei ich in Wirklichkeit sage: Morgen muss ich (…) das Hausmädchen daran erinnern, den Kühlschrank zu putzen. Außerhalb des Bettes gefällt ihm der Akzent nicht so sehr. Er sagt, je mehr Amerikanisch ich spreche, mit je mehr Amerikanern ich rede, desto amerikanischer klinge ich.<< 
Wenn der Albaner Alvo Luna besucht, machen sich in ihr alte Erinnerungen aus ihrem Land breit:
Es war schon so lange her, seit Lula albanische Tänze gesehen hatte. Sie hatte vergessen, wie es einen in die Reihe zog, auch wenn man eigentlich cool und modernen und albanischen Tänzen längst entwachsen war. In die einfachen Schritte floss so viel individuelle Seele mit ein, von Männern und Frauen, Jungen und Alten, Verheirateten, Singles, Dicken und Dünnen. Keiner trug die starre Maske der Lehre oder Ängstlichkeit, die Lula so oft in den Gesichtern von Amerikanern gesehen hatte, wenn sie ihre eigenen Tänze erfanden, unbefangen zu wirken versuchten, selbst während sie sich bemühten, eine Botschaft von Selbstvertrauen und Sexualität auszusenden, und ob sie zu haben oder vergeben waren. Wie anstrengend es war, wenn sich Amerikaner zu Paaren aus Noahs Arche zusammentaten, rhythmische Vorspiele oder Nachspiele zum Sex aufführten oder in Mädchengruppen zusammen tanzten, niemals in Jungsgruppen, sich wanden, distanziert von den Körpern, die sie zur Schau stellten. Albaner griffen nur nach der letzten Hand in der Reihe und überließen sich der Musik. 
Es ist Weihnachten und das Land gibt jede Menge Geld für die scheinbare Glitzerwelt aus, dass man meinen muss, das Land ersticke in seinem Wohlstand. Doch das ist nur das Bild, das von vielen reichen Amerikanern ausgestrahlt wird. Lula durchschaut auch diese Welt:
In ganz Amerika waren die Kinder total überdreht vor Freude, klammerten sich an ihre Matratzen, um nicht sofort nach unten zu rennen und ihre Geschenke aufzureißen. Lula wusste, dass es sich dabei um die Fernseherversion des amerikanischen Lebens handelte, dass die Hälfte der Bevölkerung krank und allein oder obdachlos war und die Festtage nur als etwas betrachtete, das hoffentlich bald vorbei war, vorzugsweise nach kostenlosem Truthahn in einer dampfigen, versunkenen Suppenküche. 
Nun habe ich noch gar nichts zu Zekes Eltern geschrieben. Der Vater ist einst mal Professor gewesen und wegen des besseren Verdienstes ist er zur Bank übergewechselt und Banker geworden. Hier verdient er wesentlich mehr, doch mit der Zeit stellte er fest, dass er sich dort nicht wirklich ausgefüllt fühlt, und sehnt sich nach seinem alten Beruf zurück. Doch er schafft den Absprung nicht, zu sehr macht er sich von seinem Banker-Gehalt abhängig.

Zekes Mutter leidet unter einer schweren psychischen Erkrankung, die so gravierend ist, dass sie die Familie verlässt und später auch in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird, da sie fremd- und selbstgefährdende Züge aufweist. Für Zeke ist das ein Schock. Zum einen, weil die Mutter ihn und den Vater verlassen hat, zum anderen, weil sie psychisch krank ist …
Mister Stanley quält oftmals die Sorge, Zeke könne die Erkrankung seiner Mutter geerbt haben, da er nach außen hin auch ein wenig auffällig wirken würde. Lula schafft es recht gut, den Jungen zu betreuen, gewinnt sein Vertrauen, bis er schließlich aufs College wechseln soll. Aus Lulas Sicht:
Wenn man Zeke nicht kannte, oder selbst wenn man ihn kannte, würde man nie darauf kommen, dass er der Junge war, dessen Mutter gerade in Anwesenheit des Kindermädchens (…) einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte. Vielleicht würde es Zeke morgen treffen, oder am Tag danach, oder vielleicht in zwanzig Jahren. Wenn es eines gab, was Lula aus der Geschichte des Balkan und aus dem amerikanischen Fernsehen gelernt hatte, dann, wie lange sich Erinnerungen aufstauen können, bevor der Korken aus der Flasche schießt. 
Aufgrund eines kriminalistischen Zwischenfalls, den Lula selbst nicht verursacht hat, verlässt sie schließlich Mister Stanley und Zeke …

Die gesellschaftlichen Probleme Amerikas wurden mir zu oberflächlich dargestellt.  

Das Buch erhält von mir sieben von zehn Punkten.
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Alleinsein hat nichts damit zu tun, wie viele Menschen um dich herum sind.
(J.R. Moehringer)

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