Sonntag, 28. Dezember 2014

Ayse Kulin / Der schmale Pfad (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch fand ich sehr interessant. Es behandelt den türkisch-kurdischen Konflikt innerhalb der Türkei. Ein wenig weiß man ja durch die Presse, dass die Kurden von den Türken verfolgt und sie in ihren Menschenrechten eingeschränkt werden. Die Kurden müssen ihre Herkunftssprache verleugnen und werden einem Assimilationsprozess ausgesetzt; sie werden türkisiert. Das heißt, ihre eigenen kulturellen Werte müssen denen der türkischen weichen. Unterdrückung der Minderheiten wird der Türkei vorgeworfen, weshalb ihr die Mitgliedschaft in die Europäische Union verweigert wird.

Der Autorin gelingt es, die politischen und sozialen Missstände dieser beiden Völkergruppen darzustellen und ihr nichts wichtiger ist, literarisch und politisch nach Lösungen dieser Probleme zwischen den Kurden und den Türken ihres Landes zu suchen.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein: 
Die Journalistin Nevra Tuna steckt in einer privaten und beruflichen Krise. Ihre ganze Hoffnung setzt sie auf ein Interview mit der inhaftierten kurdischen Politikerin Zeliha Bora, das ihre Karriere retten soll. Doch zwischen den beiden Frauen, deren Lebensverhältnisse unterschiedlicher nicht sein könnten, stehen nur Vorurteile und Vorwürfe. Kurz bevor das Gespräch zu scheitern droht, entdecken sie: In ihrer Kindheit waren die beiden engste Freundinnen, nun versuchen sie, die vergangenen Jahre heraufzubeschwören und ungelöste Rätsel zu lösen. Letzten Endes ist es die wiedergefundene Freundschaft der beiden Frauen, die politische Gräben überbrückt.
Die Art und Weise, wie die Autorin an ihr Thema herangeht, fand ich originell. Zwei Frauen, die sich nach dreißig Jahren wiedersehen. Und das an einem Ort, der eigentlich nicht dafür geeignet ist, ein Wiedersehen zu feiern.

Die Journalistin Nevra Tuna führt ein Leben, das nicht viel anders ist als das Leben der Menschen aus der westlichen Welt. Da wir hier in Deutschland dazu neigen, alle Türken in eine Schublade zu stecken, zeigt dieses Buch, dass auch in der Türkei nicht alle Menschen gleich sind.

Nevra ist keineswegs eine Frau, die man in ihrer Lebensweise als eine klassische Türkin betrachten kann. Sie ist nämlich nicht jemand, die in den Traditionen ihres Landes festzustecken scheint. Auch trägt sie kein Kopftuch. Lediglich für den Besuch in das Gefängnis, der Freundin zuliebe, zieht sie sich die volle Montur über und macht damit folgende Erfahrung:
Was für ein schreckliches Gefühl das ist! Als wäre man in einer Festung eingesperrt. Wie kann sich ein Mensch freiwillig hinter solch einer Bastion aus Stoff einkerkern lassen? Warum lassen meine Religionsgenossinnen sich das so geduldig gefallen? 
Ganz so abfällig sehe ich diese Kleidertracht nicht. Es muss jeder Mensch selbst wissen, wie er sich kleidet, solange man anderen damit nicht schadet. In vielen anderen Ländern leben die Frauen erst durch das Tragen eines Kopftuches ein emanzipiertes Leben, wie z. B. in Ägypten. In bestimmten anderen arabischen Ländern werden Frauen dazu gezwungen ... 

Nevra sucht für ihr journalistiches Projekt ihre damalige alte kurdische Spielkameradin Zeliha im Knast auf, die aus politischen Gründen inhaftiert ist. Die Welten dieser beiden Frauen sind so unterschiedlich, unterschiedlicher können sie gar nicht sein. Während hier Nevra als die moderne Frau auftritt, so wirkt Zeliha als eine Frau, die ihre Sitten und Gebräuche verteidigt. Man darf sie nicht falsch verstehen. Zeliha ist natürlich nicht gegen den Fortschritt. Nur, je mehr sie und ihr Volk von den Türken unterdrückt werden, desto stärker halten diese Menschen an ihren Werten und Traditionen fest.

Was ist bei den Kurden so anders? Aus dem Buch konnten folgende Lebensweisen entnommen werden wie z. B. Polygamie, Kinderreichtum, Reduzierung der Frauen auf Ehe, Mutter und Haushalt etc. .

Es dauert ein wenig, bis die beiden Frauen in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren. Jede verteidigt die Werte ihres Volkes. Und jede sucht in der anderen die Schuldige. Ein Beispiel aus ihren Streitgesprächen:
„Wir wollten nie ihr sein. Wir wollten wir sein."
„Welchen Unterschied gab es denn zwischen euch und uns? Waren das die zahllosen jungen Menschen wert, die niedergerissen, entvölkerten Dörfer, die ausradierten Familien?"
„Wenn ich das Recht bekomme, in meiner Sprache zu reden und zu schreiben, dann hat es sich gelohnt!"
„Das Recht hättet ihr auch ohne Terror bekommen können. Im Parlament, das ihr vom ersten Tag an für eure Zwecke missbraucht habt, hättet ihr es erstreiten können."
Aber die beiden Frauen fangen sich wieder und kehren in ihre freundschaftliche Gesprächsform zurück, wie sie sie einst aus ihren Kindertagen her kannten.

Als die beiden Mädchen klein waren, hatte es ihnen keine Mühe gekostet, miteinander die unterschiedlichen kulturellen Werte zu leben. Währen das eine Mädchen türkisch sprach, sprach das andere kurdisch ... Die Freundschaft war von gegenseitiger Achtung und Respekt geprägt. Sie lernten beide voneinander. Als Erwachsene scheint das nicht mehr zu gehen. Seltsam. Schade.

Erst im Austausch der beiden Frauen erkennt Nevra, dass ihr Leben anders verlaufen ist, anders als das ihrer Freundin Zehira. Nevras Leben wurde z.B. nicht von politischer Gewalt geprägt:
Es gibt in meinem Herzen einen Stich vor Scham, weil mir, während ich Zeliha zuhöre, bewusst wird, wie viel Glück ich im Vergleich zu ihr hatte. Ich habe kein Recht, mich zu beklagen! Ich bin ein Stadtkind, das keine Ahnung davon hat, was es heißt, eine Nebenfrau zu haben, das nie verhaftet worden ist, keine Folter erlebt hat, nie das Leid der Blutrache erfahren hat und das sich nur quält, wenn es solchen entsetzlichen Geschichten lauscht. Auch wenn ich noch so viel höre und dabei immer trauriger werde, bohre und bohre ich bei meiner Freundin dennoch immer weiter nach, als würden wir uns durch das Leid, das wir durchmachten, immer ähnlicher werden. 
Zelihas Familie steht unter einem schweren Trauma, als sie von einer politischen Organisation, die mich an die Mafia erinnert hat, existenziell erpresst wird. Sie musste an die Organisation eine Million Lösegelder aufbringen und auszahlen. Als die Familie das Geld eingelöst hatte, wurde sie verraten und denunziert. Der junge Mann dieser Familie namens Gengiz, der das Geld an einen Vertreter jener Organisation ausgezahlt hatte, wurde ungerechterweise als Terrorverdächtigter festgenommen und im Knast körperlich schwer misshandelt. Wäre nicht der Vater von Nevra gewesen, der als Landrat die Entlassung dieses jungen Mannes erwirken konnte. Doch es war schon zu spät. Der junge Gengiz war nach fünfmonatiger Haft vor allem psychisch gesehen schwer geschädigt, und zwar so geschädigt, dass er Nevras Vater die Freilassung nicht danken konnte und ihm stattdessen seine Intervention schimpfend vorwarf. Er wollte im Gefängnis bleiben und sterben. Die Soldaten machten aus ihm eine Bestie, sie raubten ihm die Menschenwürde. Die Zustände im Knast waren entsetzlich. Eine kleine Zelle geteilt mit vielen anderen Inhaftierten. Keine Betten, sondern Pritschen ohne Matratzen. Die Verpflegung war mehr als ärmlich. Die Justiz ist korrupt. Die Foltermethoden vernichtend. 

Diese Szenen haben mich tief getroffen. Was habe ich doch für ein Glück, als Europäerin geboren worden zu sein. Europa, es ist wohl wahr, dass auch wir hier unsere Sorgen haben, aber solche wie die oben erwähneten sind längst überholt. Bei uns in Europa gibt es innerhalb der EU keine Polygamie mehr. Die Menschen im Knast sitzen in einer geräumigen Zelle. Die Verpflegung ist mehr als gut. Auch werden die Inhaftierten nicht gefoltert. Frauen haben hierzulande das Recht, berufstätig zu sein. Sie können Familien gründen, sie können es aber auch sein lassen und für den Nachwuchs besteht eine Schulpflicht für alle Kinder unabhängig ihrer Herkunft ...  Das haben wir wohl unseren VorreiterInnen zu verdanken. Man kann nur hoffen, dass es in unserem geeinten Europa sozial und politisch keine Rückentwicklung geben wird. 

Erst am Ende der Gesprächszeit, die acht Stunden andauerte, wird Nevra klar, wo das Problem der beiden Völker liegt und stellt sich zu Recht folgende Frage:
Warum sind unsere Völker nicht in der Lage, sich zu ändern? Warum können sie die Sache nicht aus einem anderen Blickwinkel betrachten? Ach, wie sehr ähneln wir uns doch in unserem Trotz, unserem Starrsinn, in unserer Art und Weise, unsere Wut zum Ausdruck zu bringen, und in unserem Wahn, immer recht haben zu müssen. 
Sie beklagt die Defizite ihres Staates:
X-mal habe ich in meinen Artikeln geschrieben, dass uns das nicht passiert wäre, wenn der Staat in der Lage gewesen wäre, alle kurdischen Mitbürger im Lesen und Schreiben unterrichten zu lassen, wenn er ihm die Möglichkeit eingeräumt hätte, in der eigenen Sprache zu unterrichten, zu singen, Bücher zu verfassen und Fernsehsender einzurichten; vor allem, wenn es nicht diese wahnwitzige Tükisierung der Namen gegeben hätte. 
Nein, auch Zeliha sehnt sich danach, als Frau frei  leben zu können. Aber Freiheit unter den Bedingungen ihres Volkes und nicht durch Anpassung an das türkische.
Schließlich ist es Zahiras Großvater gewesen, der die Sichtweise pflegte, dass nur durch die unterschiedlichen Religionen das viele Blut unter den Menschen fließen würde ... Die Menschen würden ohne ihre Religion freier leben. 

Beide Frauen hatten eigentlich dasselbe Ziel. Navira ist es einfach nur wichtig, die politischen und sozialen Probleme ohne Gewalt lösen zu wollen, stattdessen im Miteinander, in einem Dialog tretend Probleme aufzdecken, um sie zu überwinden.

Eigentlich dürfte die Lösung, aus meiner Sicht, gar nicht so schwer sein. Das Leben des Gegenübers respektieren und achten, auch wenn das eigene Leben ein anderes ist. So, wie die beiden kleinen Mädchen es schon in ihrer Kinderzeit praktiziert hatten. Mehr braucht man eigentlich nicht.

Wer mehr über den Inhalt des Buches erfahen möchte, so verweise ich auf das Buch  …

Mir hat es sehr gut gefallen und es erhält von mir neun von zehn Punkten. Häufig haben sich die beiden Frauen über ihre Tränen unterhalten, das fand ich überflüssig und ein wenig schwulstig.

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Das Einzige, was man besitzt, ist die Liebe, die man gibt.
(Isabel Allende)

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