Montag, 17. November 2014

Bernd Schroeder / Mutter & Sohn (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre


Dies war eine wunderschöne Erzählung. Von ihr werde ich noch lange zehren. Sehr authentisch, zwischendrin mal ernst, mal wieder humorvoll, fantasievoll und liebevoll geschrieben. Freue mich, mit Bernd Schroeder einen neuen Autor entdeckt zu haben. Werde ihn in meine Liste aufnehmen, und mir noch weitere Bücher von ihm anschaffen.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Johannes hat zwei Frauen und zwei Probleme: Lisa verlässt ihn, und seine Mutter kann er nicht verlassen. Als er es fast geschafft hat, greift sie zum letzten Mittel. Bernd Schroeder erzählt die endlose Liebesgeschichte eines Mannes zu seiner ersten Frau: witzig, manchmal bösartig und trotz allem liebevoll. 
Johannes ist 57 Jahre alt und ledig. Im Laufe seines Lebens hatte er vierzehn Frauen, doch mit keiner wollte es so recht klappen. Mit Lisa hatte er ausgemacht, gemeinsam alt zu werden, doch auch diese Frau beendete vorzeitig die Bindung. Johannes trauert, wünscht sich seine Lisa zurück ...

Dann gibt es noch Johannes Mutter Martha, die ihren Sohn für einen Langweiler hält, für einen Durchschnittsmenschen, der es im Leben nicht weit gebracht habe. Dabei hat Johannes Architektur studiert und ist seit vielen Jahren bei Willi Krause angestellt, und vierzehn Frauen sind auch kein Pappenstiel. Beziehungskonflikte zu lösen, da geht wahnsinnig viel Lebenszeit drauf ...

Wobei die Firma versucht, Johannes loszuwerden und macht ihm den Antrag, ihn nach Brasilien in die Tochterfirma zu versetzen …

Johannes hatte noch eine ältere Schwester namens Franziska, die mit 24 Jahren durch Drogen ums Leben kam. Franzi wollte Medizin studieren, wurde aber Schlagersängerin. Martha war von ihrer Tochter sehr angetan, begleitete und unterstützte sie auf dem Weg einer Künstlerin. Johannes und der Vater kamen dadurch zu kurz. Und auch heute noch lebt die Mutter in einer Scheinwelt zur Tochter. X Fotos sind an den Wänden, auf allen ist Franziska abgebildet. Mittlerweile sind nach ihrem Tod mehr als zwanzig Jahre vergangen. Die Mutter lebt allein, auch ihr Mann ist vor längerer Zeit verstorben.
Während Martha Franziska idealisiert, wertet sie Johannes ab. Ziemliche Extreme zwischen Aufwertung und Abwertung.
Johannes mag die vielen Bilder an den Wänden nicht. Er fühlt sich von ihnen regelrecht bedroht. Sie symbolisieren für die Mutter all das an Perfektion, was der Sohn nie imstande war einzulösen. Franziska musste nichts einlösen. Sie liegt in dieser Wohnung, mumifizierte, für immer schön, jung, erfolgreich, in der Unfehlbarkeit der tragisch Umgekommenen. Da gibt es keine Unzulänglichkeit, kein Versagen, keinen Misserfolg. In Mutters Kopf ist diese Tochter perfekt. 
Dadurch, dass Johannes zu wenig von der Mutterliebe erfahren hat, bekomme ich als Leserin den Eindruck, er hat sich von ihr nicht wirklich gelöst. Vielleicht, psychoanalytisch gedacht, ist das auch der Grund, weshalb es mit den Beziehungen zu den Frauen nicht so recht klappen wollte.

Johannes geht seine Mutter besuchen, und ist verblüfft, als er sie in einem Rollstuhl vorfindet. Er versucht, von ihrem Krankheitsbild etwas in Erfahrung zu bringen. Die Infos sind allerdings nicht plausibel genug, aber was bleibt Johannes übrig, als diese erstmal so hinzunehmen?

Der Besuch bei der Mutter wurde zunehmend anstrengend. Ständig sprach Mutter Martha von Franzis und deren Erfolgserlebnissen und immer wieder stellt sie Johannes, indem sie ihre beiden Kinder vergleicht, als Versager hin.

Als Schüler habe er einmal die Klasse wiederholen müssen. Als Schüler hatte er keine FreundInnen und im Beruf würde er auch nichts anderes auf die Beine bringen, als immer nur Hallen zu konstruieren ...
Da muss man schon gute Nerven haben, dies alles an den Kopf geknallt zu bekommen. Die hat Johannes aber nicht und so verfällt er in dasselbe Muster seiner Mutter, indem er permanent versucht, die Mutter von ihren Meinungen abzubringen.
Johannes kann das nun gar nicht gebrauchen, die vielen Vorwürfe, wo er doch gerade um seine Lisa trauert. Sein Selbstwert scheint arg angekrazt zu sein ...

Auch Lisa muss sich um ihre alten Eltern kümmern, besonders um die verwirrte Mutter, doch sie pflegt eine völlig andere Vorgehensweise. Ich muss nun einen längeren Textauszug einbringen, weil der einfach zu schön ist. Lisa spricht ihre Mutter mit dem Vornamen Ruth und den Vater mit Paul an:
Einmal kam ein Anruf mitten in der Nacht. Lisa stand auf. Das ist rot, das spüre ich. Hallo!Lisa! Lisa! Es ist etwas ganz Schreckliches passiert!Hallo Ruth, erzähl, was ist denn los?Paul! Paul!Was ist mit Paul?Ich will gerade ins Bett gehen. Bin von einer weiten Reise zurückgekommen, will ins Bett gehen, da - liegt Paul im Bett! Paul liegt in meinem Bett!Ja und?Paul liegt in meinem Bett.Schläft er?Jaja. Er schläft. In meinem Bett.Schnarcht er?Nein. Er liegt nur so da.Lässt der dir keinen Platz?Doch.Na, dann leg dich doch zu ihm. Du hast Paul doch lieb, oder?Ja ja.Na also, wo ist das Problem?Ja, wenn du meinst, lege ich mich zu ihm. Gute Nacht, Lisa.Gute Nacht, Ruth, schlaft schön, ihr beiden. 
Nach dem Telefongespräch fragte sich Ruth lachend, auf welcher Reise die Mutter sich wohl befand?

Mir hat diese Szene so gut gefallen, dass ich sie aufschreiben musste. Sie zeigt auf, dass Lisa im Gegensatz zu Johannes die Mutter so sein lassen konnte, wie sie ist, und sie sie nicht von der gegenwärtigen Realität zu überzeugen versucht. Das gelingt Johannes noch nicht …

Johannes kämpft mit sich, kämpft mit der Mutter, kämpft mit den unterschiedlichen Realitäten, bis er sich denkt:
Du darfst die Kriege mit Mutter nicht führen, die sie anzettelt. Sei Pazifist. Wenn sie dich auf die Wange schlägt, halte ihr die andere hin. Nur so geht es. Hör einfach zu, egal, was sie redet, wen sie beleidigt, was sie für Vorurteile in die Welt setzt. Hör einfach nur zu. Sei Therapeut. Denke, du wirst fürs Zuhören bezahlt. Und so ist es ja. Wenn sich jemand anderes kümmert, musst du ihn bezahlen. So sparst du das Geld. Und jede Wette: Sie hält das für Liebe und ist dankbar. 
Pazifist sein, lol, im Krieg mit der Mutter. In diesem Zusammenhang wäre ich nie auf die Idee gekommen, den Begriff Pazifist zu gebrauchen, sondern nur im politischen Sinne.

Johannes bringt der Mutter ein Mobiltelefon mit. Erst lehnt die Mutter das Telefon ab, wieder mit x verschiedenen Verschmähungen, schließlich schafft er es doch, sie von Vorzügen dieses Telefons zu überzeugen.

Und auch hier immer wieder Abweisungen und ins Gewissen reden und dies mit folgender Absicht:
Mein Sohn hält mich für verrückt - wegen all dieser Bilder hier. Und überhaupt. Er kommt mit den normalen Menschen schon nicht zurecht, da macht ihm eine verrückte alte Mutter Angst. Und eine Hilflose im Rollstuhl erst recht. Aber da verrechnet er sich. So einfach rennt man von mir nicht davon. Das ist schon eurem Vater nicht gelungen. Es wird ihm auch nicht gelingen. Denn mit einem schlechten Gewissen kann er nicht leben. Nein, meine Liebe, der verlässt uns nicht. Die Arme einer Mutter reichen weit. Ich werde ihn festhalten, ohne dass er es merkt, drahtlos. Jawohl. 
Johannes holt für ihn und für die Mutter eine Pizza beim Italiener. Etwas später erhält er einen Anruf von der Mutter, mit der Bitte, eine dritte Pizza mitzubringen, da sie unerwarteten Besuch bekommen habe. Als schließlich Johannes mit den drei Pizzen zurückkommt, ist er sichtlich irritiert, weil für drei Personen zwar gedeckt wurde aber keine weitere Person zu sehen war. Die Mutter hatte für Franziska mitgedeckt. Plötzlich macht es in Johannes klick, ändert seine Strategie, die mich an eine Paradoxintervention erinnern lässt. Johannes prostet Franziska zu, er prostet der Mutter zu:
Die Mutter ist verwirrt, versteht diesen Umschwung nicht, schaut ihm irritiert zu. Plötzlich kann oder will sie diese Rolle nicht mehr weiterspielen. Franziska ist nicht mehr da, hat sich in Nichts aufgelöst. Die Mutter versucht, der neuen Situation etwas Positives für sich abzugewinnen. Da sitzt der Sohn, friedlich, gut gelaunt. Was war denn vorher? Haben sie gestritten? War Besuch da? Man ist Pizza. Wo kommt die her? Warum ist der da? 
An dieser Stelle mache ich nun Schluss. Wie es mit der Mutter für Johannes weitergehen wird und ob er es schaft, die Trauer um seine Lisa zu überwinden, das lest selbst. 

Das Buch erhält von mir wegen der anfangs beschrieben Gedanken zehn von zehn Punkten.
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Jedes Böse hat auch sein Gutes.
(Isabel Allende)

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