Sonntag, 24. Februar 2013

Orhan Pamuk / Das stille Haus (2)

Zweite Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch ist durch die vielen Ich-Erzähler sehr facettenreich, dass ich nicht auf alle Figuren eingehen kann. Wie immer schreibe ich mir meistens die Stellen aus dem Text heraus, die mich tief bewegt haben.

Der Roman befasst sich mit den Jahren 1980 – 1983.

In dem Haus ist es recht still, denn dort lebt nur noch eine Großmutter mit ihrem kleinwüchsigen Stiefsohn namens Recep, der der Hausdiener der alten Dame ist. Fatima ist schon recht alt und hat viele Menschen aus ihrem Familienkreis durch den Tod verloren. Sie hätte fast alle überlebt, wären da nicht noch ihre drei Enkelkinder, die in der Hauptstadt des Landes leben. Die Namen sind Nigül, Faruk und Netim. Netim geht noch zur Schule und verdient sich ein wenig Geld durch die Nachhilfe in Mathe und in Englisch, da er nach der Schule unbedingt nach Amerika möchte, um dort zu studieren. Amerika ist das Land, wo seine Vorbilder leben. Netim und die anderen Figuren idealisieren recht stark die westliche Kultur. Nicht wenige aus den islaminschen u.a. Ländern zog es dort hin, und erlitten dann einen Kulturschock...
Nigül ist schon fertig mit der Schule und studiert an der Universität. Ich habe vergessen, was sie studiert hat. Faruk ist der älteste von den drei Geschwistern. Er ist von seiner Frau geschieden. Angeblich habe die Frau ihn verlassen, weil er nicht so viel Geld besitzen würde. Dies kritisieren die Ich-Erzähler heftigst, dass sich in der Türkei vieles nur noch ums Geld drehen würde.

Die drei Enkelkinder gehen ihre Großmutter besuchen und bleiben dort für acht Tage. Die Großmutter ist ziemlich geschwächt und liegt im Bett. Aber vom Geistigen her ist sie noch rege und fit. Das Haus ist schon recht alt und müsste eigentlich saniert oder abgerissen werden. Deshalb der Titel „Das stille Haus“, weil außer der Großmutter und Recep niemand mehr dort wohnt. Die Enkelkinder haben ihre Eltern verloren, da waren sie noch recht klein. Woran die Eltern gestorben sind, geht aus dem Text nicht hervor, oder ich habe ihn verpasst. Der Mann von Fatma, Selahattin, ist auch schon gestorben und er galt zu Lebzeiten als ein recht angesehener Arzt. Auch arbeitete er an einer Enzyklopädie und bezeichnete sich als Wissenschaftler nach dem Vorbild der westlichen Welt. Die Enzyklopädie ist eher symbolisch gemeint, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass es in der Türkei keine Nachschlagewerke gibt. Wörter und Begriffe werden von Salahattin untersucht, als habe es bisher noch niemand getan. Da die Menschen dort viele Fragen mit Hilfe des Glaubens erklären, beantwortet der Arzt die Fragen ohne den Glauben, aus seiner Sicht rein wissenschaftlich.… .

Seine Frau dagegen lebte noch recht traditionell, so dass die Ehe in ihren Widersprüchen steckte.

Selahattin zählt  auch zu diesen Ich-Erzählern; Fatma erinnert sich, als sie das Haus gebaut hatten, ganz nach Vorbild Europas:
„Hier wird meine Praxis sein, hier das Esszimmer, hier eine Küche nach europäischer Art; jedes Kind bekommt sein eigenes Zimmer, denn jeder soll sich in sein Zimmer zurückziehen und seine eigene Persönlichkeit entwickeln können, ja Fatma, drei Kinder will ich; wie du siehst, lasse ich an den Fenstern keine Holzgitter anbringen wie an den traditionellen Häusern, Frauen sind schließlich keine Tiere, die man einsperrt, wir sind alle frei, wenn du willst, kannst du mich verlassen, wir bringen Fensterläden an, wie drüben in Europa, überhaupt soll es zwischen dort drüben und hier kein Unterschied mehr geben, und wir lassen auch keine Erker bauen, sondern einen Balkon, ein Fenster zur Freiheit, ist das nicht ein schöner Anblick, Istanbul muss dort hinter diesen Wolken sein, fünfzig Kilometer weit weg, gut, dass wir in Gebze aus dem Zug gestiegen sind, die Zeit vergeht schnell, ich glaube sowieso nicht, dass sich die Dummköpfe lange an der Regierung halten, vielleicht werden die Jungtürken gestürzt, bevor unser Haus überhaupt fertig ist, und dann gehen wir sofort nach Istanbul zurück, (…).“ 38f. 

Selahattin bezeichnet die Kultur der Türkei als total rückständig, unreflektiert und unwissenschaftlich und tut alles, um dies in seiner Lebensweise zu ändern:
" (…) ich glaube fest an die Unentbehrlichkeit der Wissenschaft und daran, dass es bei uns deshalb so elend zugeht, weil wir unwissenschaftlich sind, ich habe zutiefst begriffen, dass auch wir eine Renaissance brauchen, ein Neuerwachen der Wissenschaft, Mir steht eine furchtbar große Aufgabe bevor, und ich kann Talat Pasar nur danken, dass er mich in diese trostlose Gegend verbannt hat, denn ohne die Einsamkeit und die vielen Lese-und Mußestunden wäre ich nicht zu diesen Gedanken gelangt und hätte nie die Bedeutung meines geschichtlichen Auftrags erfasst, Fatma, und auch die Gedanken Rousseaus sind Fantasien eines einsamen Spaziergänger auf dem Land, inmitten der Natur, doch wir beide gehen ja zusammen umher (…)". 107 f
Ja, von Roussau habe ich auch eine Biografie gelesen, und sein Standardwerk Emils Erziehung. Es stimmt wohl, die meisten Gedanken entwickelte Rousseau in seiner Einsamkeit, wobei viele seiner Theorien auch recht widersprüchlich waren... . Roussau hatte jede Menge Probleme mit seinem Land, bedingt durch sein Verhalten und seiner Denkweise, so dass er des Landes verwiesen wurde und lebte als Exilant in einem anderen europäischen Land, wie z.B. England.... . Auch hier erfahre ich eine zu starke Idealisierung.

Ich frage mich, was lehren die Universitäten und die Schulen in der Türkei? Es muss doch auch in der Türkei Geschichte und Wissenschaften geben, eine stärkere Abgrenzung zu Glaube und Religion..
Nun folgt ein Gedanke, der mir recht gut gefallen hat:
"Der Himmel ist auch in Frankreich blau, an Feigenbäumen werden auch in New York die Früchte im August reif, und ich schwöre dir, dass aus Hühnereiern in China genauso Küken schlüpfen wie bei uns, und wenn in London Wasserdampf eine Maschine in Bewegung setzt, dann tut er es auch hier, und wenn es in Paris keinen Gott gibt, dann gibt es hier auch keinen Gott, und die Menschen sind überall gleich und eine Republik ist immer das beste und die Wissenschaft steht über allem." (lol), 247
Ein sehr schönes Zitat, doch der Autor hat ganz vergessen, dass Frankreich ein katholisches Land ist. Auch Europa hat seinen Glauben und seine Religionen, nicht jeder Wissenschaftler ist Atheist.  Und nicht jeder Atheist ist Wissenschaftler. Auch in Europa gibt es viele Widersprüche und viele Differenzen. Das wäre ja schlimm, wenn alle Menschen gleich wären.
Auf mich wirkt Selahattins Bild zu Europa ein wenig zu naiv. Zu undifferenziert, nicht nur der Lebensweise der Menschen gegenüber, sondern auch der Wissenschaft. Auch die Wissenschaft ist nicht in der Lage, alle Fragen zu beantworten bzw. alle Rätseln der Welt zu lösen. Dazu ein Zitat von Einstein:
Fantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt. (Zitat aus einer Tageszeitung)
Ich merke gerade, dass mich Fatmas Mann doch am meisten beschäftigt hat und ich überwiegend die Textstellen herausgeschrieben habe, die er gedacht  hat. Natürlich hat er mit seiner Lebensweise seine Enkelkinder auch geprägt, denn sie sind es, die mit diesen vielen Welten in sich leben und auskommen müssen. Bis sich der Wandel vollzogen hat, können Generationen vergehen.

Die junge Studentin Nigül entwickelt sich zu einer Kommunistin. KommunistInnen sind nicht gern gesehen und so wird sie Opfer von körperlicher Gewalt… . Die Gewalt wurde auch noch von einem Jüngling verübt, der in sie verliebt ist. Merkwürdige Form von Liebe… . Daran wird auch deutlich, wie Frauen behandelt werden, die anders zu leben versuchen… . Aber Nigül, das Mädchen von Welt, wirkt ein wenig arrogant, spricht nicht mehr mit den Menschen, mit denen sie einst mal gleichaltrig gespielt hatte. Diese Überheblichkeit reizt ihren Täter maßlos... .

Selahattin versucht Fatma darin zu überzeugen, dass es Gott gar nicht geben kann und ich füge ein letztes Zitat hinzu:
"Du wirst in lautloser Einsamkeit darben, aus der es kein Zurück gibt; deine Leiche wird im kalten Boden faulen, dein Schädel, dein Mund sich wie ein Blumentopf mit Erde füllen, dein Fleisch zerfallen wie getrockneter Dünger, dein Skelett zerbröseln wie Kohlenstaub, und in der Gewissheit, dass dir kein Fünkchen Hoffnung auf eine Rückkehr gegönnt ist, wirst du in einen fürchterlichen Sumpf tauchen, der dich bis zum letzten Härchen zersetzen wird, in ein unerbittliches Nichts, einen eisigen Schlamm, in dem du zu Grunde gehst: verstehst du mich, Fatma?" 507
Der Roman endet mit einer Tragik, und lässt in mir den Eindruck zurück, dass alte Lebensweisen was Politik, Glauben, Familie und Gesellschaft betrifft, immer wieder auf ihr altes Muster zurückfallen. Bemühungen für neue und moderne Lebensperspektiven konnten sich nicht durchsetzen.
Man spürt sehr deutlich diese Zerrissenheit, die Pamuk, der aus einer gebildeten Familie stammt, innerlich durchlebt. Das Buch an sich fand ich nicht schlecht, nur die Art und Weise, wie er die Probleme hat angehen lassen, fand ich arg anstrengend, zumal er sich oft wie in einem Kreis sich drehend wiederholt.

Mich hat das Buch auch ein wenig deprimiert.
Denn auch ein Wissenschaftler weiß noch lange nicht alles, viele weltliche und religiöse Fragen bleiben auch hier oft unbeantwortet.

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„Musik ist eine Weltsprache“
         (Isabel Allende)

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