Donnerstag, 14. Juni 2012

Erzählungen von Thomas Mann BD 1

  Der Bajazzo, eine Erzählung von 54 Seiten


ISBN-10: 3596512255
Nach allem zum Schluss und als würdiger Ausgang, in der Tat, alles dessen ist es nun der Ekel, den mir das Leben - mein Leben -den mir >alles das< und  >das Ganze< einflößte. 

So beginnt die Erzählung von Thomas Mann, ob es nun Zufall ist oder nicht, aber irgendwie passt der Anfang, überhaupt das gesamte Thema, ein wenig zu meiner letzten Lektüre. Auch hier habe ich es mit einem Erzähler zu tun, der über sein Leben voll Abscheu und Ekel spricht.


Die Novelle handelt von einem Ich - Erzähler, zu einer Lebenszeit, als er dreißig Jahre alt war. Man erfährt auf den ersten Seiten ein wenig von dessen Familie. Zwei ältere Schwestern, die aber nach meinem Empfinden als Nebenfiguren keine außergewöhnliche Rolle spielen, bleiben in meiner Buchbesprechung unerwähnt. Der Vater ist in der Öffentlichkeit ein recht angesehener und geachteter Kaufmann, während die Mutter klein, zierlich und recht mädchenhaft wirkt und sie als nicht besonders hübsch beschrieben wird. Sie ist auf dem Gebiet der Literatur und dem Theater sehr bewandert. Das große Interesse für Literatur und Theater machte sich auch recht bald in dem Jungen, dem Erzähler, bemerkbar. Zu Weihnachten bekommt er ein Spieltheater geschenkt, mit dem er leidenschaftlich seine Fantasien auslebt und darin sogar auch Opern erfand… . Er beherrschte recht früh die Fabulierkunst.
In der Schule zeigt er sich dadurch eher verträumt und desinteressiert, und er brachte nicht die Leistungen zustande, die der Vater von ihm erwartete. Mit siebzehn Jahren wurde er somit in die Kaufmannslehre geschickt, und die Schule wurde vorzeitig beendet.

Der Vater zeigt sich nicht gerade entzückt über seine Entwicklung und das Interesse und der Liebe zu den literarischen Künsten. Er bezeichnet seinen Sohn als einen Bajazzo.

Bajazzo, eine Spaßfigur, mit nicht ernstzunehmenden Chraktereigenschaften und Vorlieben, entlehnt aus dem italienischen Volkstheater. Wobei mir der Protagonist gar nicht so erscheint. Auf mich wirkt er, nachdem ich die Novelle durch hatte, ein wenig ernst und nachdenklich, ein Bajazzo würde gar nicht so sehr sein Leben reflektieren. Er wäre durch und durch ein Lebemensch.

Der Junge wirkte außerhalb der Literatur und dem Theater nicht besonders ehrgeizig, aber er begab sich brav und widerstandslos in die Lehre bei dem Holzhändler Schlievogt. Es gelang ihm, sich dort gut anpassen und machte sich bei seinem Meister auch recht beliebt. Mit der Zeit lernte er ein geregeltes und sicheres Leben zu führen, das sich in feste Bahnen bewegt. Diese Lebensform würde aus meiner Sicht partout nicht zu einem Bajazzo passen… . Doch als der Vater verstarb und kurze Zeit darauf auch seine Mutter, erbte er eine fünfstellige Summe, so dass er gut damit seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, ohne weiter seinen Beruf als Kaufmann nachgehen zu müssen.
Er zog in eine andere Stadt, und begann dort ein neues Leben.


Meine Tage vergingen fortab in Wirklichkeit dem Ideale gemäß, das von mir mein Ziel gewesen war. Ich erhob mich von etwa um 10:00 Uhr, frühstückte und verbrachte die Zeit bis zum Mittag am Klavier und mit der Lektüre einer literarischen Zeitschrift oder eines Buches. Dann schlenderte ich die Straße hinauf zu dem kleinen Restaurant, in dem ich mit Regelmäßigkeit verkehrte, speiste und machte darauf einen längeren Spaziergang durch die Straßen, durch eine Galerie, in die Umgegend, auf den Lerchenberg. Ich kehrte nach Hause zurück und nahm die Beschäftigungen des Vormittags wieder auf: Ich las, musizierte, unterhielt mich manchmal sogar mit einer Art von Zeichenkunst oder schrieb mit Sorgfalt einen Brief. Wenn ich mich nach dem Abendessen nicht in ein Theater oder ein Konzert begab, so hielt ich mich im Caffée auf und las bis zum Schlafengehen die Zeitung.


Welche Literaturinteressierten träumen nicht von solch einem Luxusleben?, selbst wenn dieses Leben durch den Erzähler letztendlich doch infrage gestellt wird... . Je mehr er sich der Kunst zuwandte, desto mehr kehrte er der Welt und den Menschen den Rücken. Er hob sich auch von den anderen Menschen deutlich ab:


Die Tage aber verstrichen, und es wurden Wochen und Monate daraus- Langeweile? Ich gebe zu: Es ist nicht immer ein Buch zur Hand, das eine Reihe von Stunden den Inhalt verschaffen könnte; übrigens hast du ohne jedes Glück versucht, auf dem Klavier zu fantasieren, du sitzest am Fenster, rauchst Cigaretten, und unwiderstehlich beschleicht dich ein Gefühl der Abneigung von aller Welt und dir selbst; die Ängstlichkeit befällt dich wieder, die übelbekannte Ängstlichkeit, und du springst auf, machst dich davon, um die auf der Straße mit dem heiteren Achselzucken des Glücklichen die Berufs-und Arbeitsleute zu betrachten, die geistig und materiell zu unbegabt sind für Muße und Genuss.


Eigentlich nimmt der Erzähler schon recht deutlich wahr, dass sein Leben trotz der  vielseitigen Kunst recht einsam verläuft, doch er wagt sich nicht sich dem zu stellen, und wertet sich auf, indem er die arbeitende Bevölkerung, verglichen zu ihm und seinen Möglichkeiten, als unbegabt hinstellt. Letztendlich ist dieses Urteil eher ein Selbstschutz, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass ihm im Leben doch auch etwas ganz Wesentliches fehlt.

Auf den folgenden Seiten erfährt man schließlich doch, dass er hin und wieder ein wenig müde von der Einsamkeit ist. Seine Unzufriedenheit nimmt immer mehr zu, so dass er schließlich sich doch eingestehen muss, dass er keinem bestimmten Gesellschaftskreis angehört, indem er Bekanntschaften hätte knüpfen können.


 Übrigens hatte ich hier wohl mit der Gesellschaft gebrochen und auf sie verzichtet, als ich mir die Freiheit nahm, ohne ihr in irgendeiner Weise zu dienen, meine eigenen Wege zu gehen, und wenn ich, um glücklich zu sein, der Leute bedurft hätte, so muss ich mir erlauben, mich zu fragen, ob ich in diesem Falle nicht zur Stunde damit beschäftigt gewesen wäre, mich als Geschäftsmann größeren Stils gemein nützlich zu bereichern und mir den allgemeinen Neid und Respekt zu verschaffen.


Als Geschäftsmann? Wen muss er neidisch machen... ?. Hat er es nötig? Vielleicht hätte er sich im Elternhaus besser durchsetzen müssen, um seine Begabungen in der Kunst weiter zu entfalten. Aber auf einem professionellen Gebiet, auf dem sich noch andere Künstler tummeln, und mit ihnen im Austausch bleiben würde. Aber er besänftigt sich immer wieder mit nicht ganz aufrichtigen Gedanken:


Ah, ich habe aber mein Leben zu meinem Wohlgefallen eingerichtet! Bin ich vielleicht nicht glücklich? Eine Lächerlichkeit, diese Frage, und weiter nichts. (…) Es ist wahr, dass ich allerhand vermag! Ich kann (…) mich am Flügel niederlassen, um mir im stillen Kämmerlein meine schönen Gefühle voll auf zum Besten zu geben, und das sollte mir billig genügen; denn wenn ich, um glücklich zu sein, der Leute bedürfte - dies alles! Allein gesetzt, dass ich auch auf den Erfolg ein wenig Wert legte, auf den Ruhm, die Anerkennung, das Lob, den Neid, die Liebe?
 
Schließlich versucht er >Glück< zu definieren, wobei ich den Eindruck bekomme, dass er >Glück< auch erzwingen will, um sein Leben damit als geglückt rechtfertigen zu können:


 Ich will und muss glücklich sein! Die Auffassung des "Glückes" als eine Art von Verdienst, Genie, Vornehmheit, Liebenswürdigkeit, die Auffassung des "Unglücks" als etwas Hässliches, Lichtscheues, Verächtliches und mit einem Worte lächerliches ist mir zu tief eigentlich, als dass ich mich selbst noch zu achten vermöchte, wenn ich unglücklich wäre. 

Ich denke, dass es nicht so einfach ist zu verkraften, wenn man plötzlich die Erkenntnis machen muss, dass man im Leben etwas ganz Wesentliches versäumt hat, obwohl der Protagonist noch sehr jung ist, und sein Leben durchaus noch umlenken könnte:
 
Was dürfte ich mir gestatten, um glücklich zu sein? Welche Rolle müsste ich vor mir spielen? Müsste ich nicht als eine Art von Fledermaus oder Eule im Dunkeln hocken und neidisch ich zu den Lichtmenschen hinüberblinzeln, den liebenswürdigen Glücklichen? Ich müsste sie hassen, mit jenem Hass, denn nichts ist als eine vergiftete Liebe, - und mich verachten!


Ja, er hat sich auch in eine Frau verliebt, eine hübsche junge Dame, eine Theaterbesucherin, die aber leider einem anderen Bewerber versprochen ist, wie er enttäuscht feststellen musste. Aber zumindest lernt er das Gefühl der Liebe kennen..., selbst wenn er nach dieser Enttäuschung auch die Liebe letztendlich in sich völlig verwirft und sie als eine bloße, lästige Eitelkeit abtut:


Liebte ich, wenn endlich einmal diese Frage erlaubt ist, liebte ich dieses Mädchen denn eigentlich? Vielleicht… aber wie und warum? Weil diese Liebe nicht eine Ausgeburt meiner längst schon gereizten kranken Eitelkeit, die beim ersten Anblick dieser unerreichbaren Kostbarkeit reinigend aufbegehrt war und Gefühle von Neid, Hass und Verachtung hervorgebracht hatte, für die dann die Liebe Vorwand, Ausweg und Rettung war?
Ja, das alles ist Eitelkeit! Und hat mich nicht mein Vater schon einst einen Bajazzo genannt?
 
Sicherlich haben ihn die väterlichen Urteile geprägt, von denen er sich nicht hat lösen können, vielleicht, weil er diese nicht ausreichend genug hinterfragt hat. Ein kleiner Dialog zwischen den Eltern über den Sohn. Der Vater:


Seine Begabung, von der du sprichst, ist eine Art von Bayazzobegabung, wobei ich mich beeile, hinzuzufügen, dass ich dergleichen durchaus nicht unterschätze. Er kann liebenswürdig sein, wenn er Lust hat, er versteht es, mit den Leuten umzugehen, sie zu amüsieren, ihnen zu schmeicheln, er hat das Bedürfnis, Ihnen zu gefallen und Erfolge zu erzielen; mit derartiger Veranlagung hat bereits mancher sein Glück gemacht, und mit ihr ist er angesichts seiner sonstigen Indifferenz im Handelsmann größeren Stils relativ geeignet."
 
Ich denke, dass es genau das ist, was den Jungen beeinflusst hat, weshalb aus ihm nicht mehr geworden ist. Er genießt seine Kunst im Stillen, obwohl er die Fähigkeiten hätte, unter Menschen zu gehen, und im Austausch mit anderen Künstlern diese dort weiter zu entfalten und die Welt mit seinen künstlerischen Fähigkeiten zu bereichern.


Wohlüberlegt, ich kann nicht umhin, mir diese so friedliche und lächerliche Begriffsunterscheidung zugestehen: Die Unterscheidung zwischen >innerem und äußerem Glück< ! >Das äußere Glück<, was ist das eigentlich?- Es gibt eine Art von Menschen, Lieblingskinder Gottes, wie es scheint, deren >Glück< das Genie und deren Genie das >Glück< ist, nicht Menschen, die mit dem Widerspiel und Abglanz der Sonne in ihren Augen auf eine leichte, anmutige und liebenswürdige Weise durchleben, pendeln, während alle Welt sie umringt, während alle Welt sie bewundert, belobt, beneidet wird und liebt, weil auch der Neid unfähig ist, sie zu hassen. :-). 


Zu diesem Zitat muss man gar nichts mehr hinzufügen, ich schreibe gewisse Textstellen eigentlich nur heraus, weil sie mir so gut gefallen. Eigentlich hätte ich in vier Sätzen sagen können, worum die Erzählung handelt, und was die Quintessenz von ihr ist.

Aber was den Erzähler für mich so sympathisch macht, ist die Auseinandersetzungen mit seinem Leben, das Abwägen von Für und Wider, auch wenn die Erzählung nicht gerade optimistisch endet, aber sie keineswegs unrealistisch macht. Er setzt sich auseinander, denkt kritisch über sein Leben nach, aber als Ekel habe ich sein Leben gewiss nicht empfunden.

Mit einem Zitat begonnen, schließe ich mit einem Zitat ab:

Scheint es nicht, dass sich die inneren Erlebnisse eines Menschen desto stärker und angreifender sind, je dégagierter, weltfremder, und ruhiger er äußerlich lebt? Es hilft nichts: Man muss leben; und wenn du dich wehrst, ein Mensch der Aktion zu sein, und dich in die friedlichste Einöde zurückziehst, so werden die Wechselfälle des Daseins dich innerlich überfallen, und du wirst deinen Charakter in ihnen zu bewähren haben, seist du nun ein Held oder ein Narr.
                                                                          ENDE !

Nachgedanke:

Es gibt einsame Menschen, die nach ihren Möglichkeiten nichts unversucht gelassen haben, sich in das gesellschaftliche Leben zu mischen, und brachten Projekte auf die Beine, die jedoch allesamt gescheitert sind. Auch in der Gesellschaft fühlen sich diese Menschen recht einsam, einsamer als die Kunst hinter ihren vier Wänden… .

Mir hat die Novelle gut gefallen und gebe ihr sieben von zehn Punkten. Sieben Punkte und nichtzehn aus dem Grund, da das Thema nicht wirklich authentisch ausgearbeitet war. Den Bajazzo habe ich in dem Protagonisten keinesfalls erkennen können. Dafür war er zu ernst und zu reflektiert. Am Anfang der Novelle wird man auf ein Leben vorbereitet, das von dem Erzähler als recht ekelhaft empfunden wird. Auch das kommt nicht wirklich gut zur Geltung. Ich finde das Leben, das der Erzähler uns mitteilt, alles andere als ekelhaft und abstoßend. 

Ich gebe der Novelle sieben von zehn Punkten. Sieben und nicht mehr, weil mir der Ich-Erzähler als Bajazzo nicht wirklich authentisch wirkte. Sieben und nicht weniger, weil man sich gut in die Erzählung einfinden kann und der sprachliche Ausdruck recht gehoben ist.

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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)


SuB:

Dickens: Schwere Zeiten 

Frank: Rücken an Rücken
Kuan: Die Langnasen
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Lueken: New-York
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Osorio: Mein Name ist Luz
Remarque: Der schwarze Obelisk
Rahom: Stein der Geduld
Senger: Kaiserhofstr. 12
Thackeray: Das Buch der Snobs
Zweig: Brennendes Geheimnis

Gelesene Bücher 2012: 42

Gelesene Bücher 2011: 86

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