Donnerstag, 7. Juni 2012

Elias Canetti / Die Blendung (2)



Es folgt nun die zweite Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

ISBN-10: 3596512255
Auf den weiteren Buchseiten zieht gemeinsam mit der frisch vermählten Frau Therese viel Chaos in das Leben des Professors ein... . Mit dem Sex nach der ersten Nacht hat es gar nicht geklappt, obwohl seine Gattin es ihm so einfach wie möglich gemacht hat ... . Eine Muschel, der Erzähler gebraucht diese Metapher, die man nicht erst öffnen muss, und trotzdem ergriff Kien die Flucht in den Toilettenraum, zog sich seine Hose aus und schluchzte wie ein Kind.

Therese will die Wohnung nun mit anständigen Möbeln bestücken und schafft ohne die Zustimmung seines Gemahls Bett, Kommode und Nachttopf in die Bibliothek an, die sie durch eine Möbelfirma zukommen lässt. Kien rebelliert:

"Und der Nachttopf?"
" Der Nachttopf?" Die Vorstellung eines Nachttopfs in der Bibliothek verblüffte ihn.
" Der kommt vielleicht so unters Bett?"
" Was fällt dir ein!"
Die Wohnung besaß vier Zimmer und es wurde ein Vertrag aufgesetzt, und darin wurden die jeweiligen Zimmer auf das Paar verteilt schriftlich fixiert. Doch Therese schaffte es, drei Zimmer zu erhalten, da das eine Zimmer neben der Küche mehr einer Kammer gleicht, worin sie auch selbst wohnte, als sie noch die Haushaltsdame des Professors war. Ebenfalls wurden in dem Vertrag die Redezeiten festgehalten, da dem Professor überhaupt nicht danach ist, selbst wenn er nun verheiratet ist, sich auf ein Geschwätz einzulassen und so hat er sich über den Vertrag absichern wollen.

Das Problem mit den Möbeln weitete sich später noch aus:
 Die Möbel existieren für ihn so wenig, wie das Heer von Atomen in ihm und um ihn. >Esse percipi<, Sein ist wahrgenommen werden, was ich nicht wahrnehmen, existiert nicht.
 Auch dies fand ich ein schönes Zitat, weil es doch auch der Wahrheit entspricht, ein Kern von Wahrheit.

Therese wird immer unbequemer, stellt Forderungen und weigert sich, weiterhin wie eine Dienstbotin zu schaffen. Sie beklagte ihm die mangelnde Zeit, die besser dafür eingesetzt wäre, um weitere Möbel anzuschaffen.
"Mit dem Kochen morgen ist es nichts. Ich habe keine Zeit. Ich kann nicht alles auf einmal machen." Neugierig auf die Wirkung ihrer Worte hielt sie inne. Sie rächt sich für seine Schlechtigkeit. Sie brach den Vertrag und redete bei Tisch. " Soll ich mir was Schlechtes anhängen lassen wegen einem Mittagessen? Mittagessen isst man jeden Tag. Das Schlafzimmer kauft man nur einmal. Eile mit Weile. Ich koche morgen nicht. Nein!"
Therese ist wütend, weil es mit dem Sex nicht klappt  und überhaupt wenig mit ihrem Mann gemeinsam unterhält, außer, dass  sie gemeinsam aber getrennt in der Wohnung des Professors leben. Das macht sie wütend, und fragt sich, ob ihr Mann ein Mann sei. Auf der Seite 174 findet Therese ihren Mann auf dem Boden seiner Bibliothek regungslos liegen, als er von der Leiter seines Regales gestürzt ist und glaubt ihn für tot. Sie ist wütend, dass er den Boden mit seinem Blut beschmutzt:
Das ist ja kein Blut. Oder hat der Mann ein richtiges Blut? Flecken machen kann er mit dem Blut, das ist alles.
Blut steht für den Lebenssaft, den Therese nicht nur in der ausbleibenden Sexualität bei ihm vermisst. Und man bekommt den Eindruck, des Professors Blut zirkuliere in eine seiner Gehirnhälfte.


Des Professors Geliebte ist eigentlich gar nicht Therese, sondern seine Bibliothek und die Bücher seine und deren Kinder. In großer Bitterkeit wendet er sich sprechend seiner Bibliothek zu und beklagt ihr sein Leid:
 "Seit einiger Zeit, genauer gesagt, seit dem Einbruch einer fremden Macht in unser Leben, trage ich mich mit dem Gedanken, unsere Beziehung auf eine starke Basis zu stellen. Eure Existenz ist vertraglich gesichert; doch sind wir, glaube ich, klug genug, um uns über die Gefahr nicht zu täuschen, in der ihr, einem rechtsgültigen Vertrages zum trotz, schwebt."
Der Professor identifiziert sich mit dem Leid seiner Bücher, vielmehr mit deren Vorfahren. Einst galten die Chinesen, 213 vor Christi, als die ersten Bücherverbrenner der Welt durch Kaiser Shi-Hong-Ti und durch seinen Minister Li-Si. Kien spricht mit den Büchern in tiefer Trauer wie andere zu leidgeplagten Menschen:
An eure noch alte und stolze Leidensgeschichte brauche ich euch im einzelnen nicht erinnern. Ich greife bloß einen Fall heraus, um ausschlaggebend vor Augen zu führen, wie nahe Liebe und Hass beieinander wohnen. In der Geschichte eines Landes, das wir alle gleicherweise verehren, eines Landes, wo man euch Aufmerksamkeit über Aufmerksamkeit, Liebe über Liebe und selbst den euch gebührenden göttlichen Kult erwies, gibt es ein furchtbares Ereignis, ein Verbrechen von mythischer Größe, das ein Machtteufel auf Einflüsterungen eines noch weit käuflicheren Beraters an euch verübt hat. (…) Dieser rohe und abergläubische Verbrecher, (s. oben, Anm. d. Verf.) war selbst viel zu ungebildet, um die Bedeutung von Büchern, aufgrund deren sein Gewaltsregiment bestritten wurde, richtig einzuschätzen. Aber sein erster Minister, selbst ein Kind seiner Bücher, ein festlicher Renegat also, wusste ihn in einer geschickten Eingabe zu dieser nie unerhörten Maßnahme zu veranlassen. (…) Die mündliche Tradition sollte zugleich mit der schriftlichen ausgerottet werden. (…) Werke über Medizin, Pharmakopöe, Wahrsagekunst, Ackerbau und Baumzucht - durchaus praktisches Gesindel also.
Ich gestehe, dass der Brandgeruch jener Tage mir heute noch in die Nase sticht. Was half es, dass drei Jahre später den barbarischen Kaiser sein wohlverdientes Schicksal ereilte? Er starb zwar, aber den toten Büchern war damit nicht geholfen. Sie waren und blieben verbrannt. 
 Diese Trauer um die verbrannten Bücher kann ich auch selbst gut nachvollziehen, wenn mir auch der Brandgeruch nicht in der Nase sticht :D. Dass der Professor die verbrannten Bücher als tote Bücher tituliert, ist für mich auch nachvollziehbar. Ich finde die Gedankenwelt des Professors eigentlich recht sympathisch, schade ist nur, dass er das geistige Leben nicht mit dem gesellschaftlichen und reellen Leben verbinden konnte. Da mir dieses Problem aus meiner Berufspraxis nicht gerade unbekannt erscheint, so stellt sich mir doch auch die Frage, was denn in seinem Leben widerfahren ist, dass er sich vor dem wirklichen Leben so sehr scheut, seine ganze Kraft und Lebenselixier in die Wissenschaften steckt?

Kien Sucht in der chinesischen Philosophie eine Erklärung für dieses Verbrechen, wobei die Erklärung, die er dort findet, könnte auch aus der Bibel stammen:
Sie handeln und wissen nicht, was sie tun; sie haben ihre Gewohnheiten und wissen nicht, warum; sie wandeln ihr ganzes Leben und kennen doch nicht ihren Weg: so sind sie, die Leute der Masse.
Auch in diesem Zitat steckt ein großer Kern Wahrheit. An anderer Textstelle geht es weiter:
Immer und ausnahmslos nehme man sich vor den Leuten der Masse in acht, ruft uns der Meister Mong mit diesen Worten zu. Sie sind gefährlich, weil sie keine Bildung, also kein Verstand haben. Einmal ist es nun geschehen, dass ich die Sorge um eure leibliche Pflege und menschenfreundliche Behandlung über die Ratschläge des Meisters Mong stellte. Diese meine Kurzsichtigkeit hat sich schwer gerächt.
Auch diese Textstelle stimmt mich ein wenig traurig bis nachdenklich, da ich auch derselben Meinung bin, dass die Masse einfach nur ein angepasster Laufträger ist... . Und doch ist es nicht nur die Masse, denn, wenn ich an den Nationalsozialismus denke, so befanden sich sehr viele kluge Köpfe darunter, Ärzte, Juristin, Chemiker ... die alle geschlossen mit ihrer Wissenschaft die Ausrottung von Juden beschleunigten. Aber letztlich war es die Masse, die diesen Menschen jene Macht übergaben und sich ihnen anvertrauten. Weshalb haben die klugen Köpfe keinen Widerstand geleistet, und deren hohe Intelligenz die Massentötung nicht verhindern konnten, statt Giftgas...  zum Töten zu erfinden. Weshalb haben Sie Ihre Intelligenz nicht eingesetzt, um diese Menschen zu retten? 
Hierbei habe ich schon ein wenig Mitgefühl für den Professor und vielleicht ist es die pure Enttäuschung über das viele Elend seit Menschengedenken und er sich aus diesem Grunde von den leiblichen Menschen zurückgezogen hat aber nicht nur. Man erfährt auch ein wenig von seiner Kindheit, auf die ich in der nächsten Buchbesprechung eingehen werde, sollten sich noch weitere Informationen zusammentragen, so dass es sich lohnt, sich darüber auszutauschen.
 Der Charakter und nicht das Staubtuch macht den Menschen.
Oder: der Charakter und nicht der Gebildete macht den Menschen, verehrter Herr Professor aber sicher haben Sie dasselbe gemeint.
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"Die rechte Vernunft kommt aus dem Herzen ." (T. Fontane)

UB:

Dickens: Schwere Zeiten
Kuan: Die Langnasen
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Lueken: New-York
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Osorio: Mein Name ist Luz
Remarque: Der schwarze Obelisk
Rahom: Stein der Geduld
Senger: Kaiserhofstr. 12
Thackeray: Das Buch der Snobs
Zweig: Brennendes Geheimnis

Gelesene Bücher 2012: 40
 


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